Montag, 18. März 2019

Darf’s ein bisschen mehr sein?


Eine Zugabe bezeichnet im Konzertbetrieb ein zusätzliches, nicht im Programmheft angeführtes Musikstück. Oft handelt es sich um zuvor geplante Zugaben.
Vor allem in der Popmusik, aber auch im Bereich der „klassischen“ Musik werden die herausragenden, vom Publikum besonders erwarteten Hits der jeweiligen Vortragenden oft in die Zugaben verlegt. Ein Beispiel dafür sind der Donauwalzer und der Radetzkymarsch, die nie im offiziellen Programm des Neujahrskonzertes der Wiener Philharmoniker stehen, sondern jedes Jahr aufs Neue (scheinbar) vom Publikum „erklatscht“ werden müssen. Bei den Berliner Philharmonikern ist dies der 1904 komponierte Marsch Berliner Luft.

Wenn man heute eine künstlerische Darbietung besucht, sollte man viel Zeit mitbringen. Das Publikum, so hörte ich neulich von einem Musiker, erwarte eine Programmdauer von mindestens zwei Stunden.

Also, ich nicht.

Mir würde eine Vorstellung reichen, die so kurzweilig ist, dass ich mir über deren Länge gar keine Gedanken mache – jedenfalls bis zum Schluss. Und da möchte ich dann eher bedauern, dass es schon vorbei ist.

In der Realität jedoch gelingt mir das selten. Auch wenn ich ein Programm ganz gut (oder zumindest nicht schlecht) finde, sorgen Veranstalter und Aufführende meist dafür, dass mir gegen Ende die Chose zum Hals heraus hängt. Gut Ding will ja angeblich Weile haben – schlecht Ding offenbar umso mehr:

Manchmal beginnt es schon damit, dass es zu spät anfängt. Aus unerfindlichen Gründen schaffen es die Künstler, obwohl sie seit Stunden zur letzten Probe oder zumindest zum Einspielen im Haus sind, nicht rechtzeitig auf die Bühne – vielleicht gibt es ja noch ein Problem mit der Tontechnik, oder man wartet auf einen „Ehrengast“. Selber hat man sich dann öfters (wegen der „freien Platzwahl“) den Hintern schon eine halbe Stunde plattgesessen, oft genug in engster „Käfighaltung“. Sehr gemütlich…

Und ja: Ich hasse es, bei Veranstaltungen zu spät zu kommen und dann den Ablauf zu stören. Die sonstigen Beteiligten scheinen solche Probleme nicht zu plagen.

Aber selbst wenn es pünktlich anfinge, geht es ja noch lange nicht los: Kaum einmal ereilt mich die Gnade, dass es keinen Vorsitzenden eines Konzertvereins oder vergleichbaren Kulturfunktionär gibt, den es zu einer „kurzen“ Vorrede drängt. Da wird mir meist schon mal erzählt, wie toll ich die auftretenden Künstler finden müsse, was mir natürlich viel Arbeit abnimmt. Vielleicht gibt es ja auch noch ein Jahresprogramm, das man, ebenso wie die „Ehrengäste“, unbedingt vorstellen muss. Und hat man besonders viel Pech, waltet über der Veranstaltung noch ein „Schirmherr“ genannter Lokalpolitiker, welcher selbstverständlich auch noch reden darf.

So ist schon mal eine Viertelstunde rum, bevor der erste Ton erklingt.

Eine weitere, sehr effektive Strategie, dem Publikum Zeit zu stehlen, ist die Moderation. Nun ist es zwar nützlich und anregend, den Zuschauern statt eines Programmzettels einen lebenden Menschen zu präsentieren, welcher sie durch den Ablauf begleitet – dennoch bin ich der Meinung: Es wird auf der Bühne viel zu viel gequasselt. Am schlimmsten wird es, wenn die Musiker selber meinen, intelligente und witzige Sätze bilden zu können. Während einem bei einem externen Ansager zumindest die Hoffnung auf rhetorisches Talent verbleibt, gilt für Sänger und Instrumentalisten zumeist: Nein, das können sie nicht!   

Einen wichtigen Zeitfresser bietet die Pause, ohne die ein Programm nicht vollständig wäre und welche meist gnadenlos überzogen wird. Im heutigen Kunstbetrieb besteht offenbar die ständige Gefahr der Dehydrierung des Publikums, weshalb bisweilen schon vor Beginn Getränke verkauft werden. Man kann sich daher fest darauf verlassen, dass bei einem seelenvollen Adagio irgendein Depp seine Wasserflasche umschmeißt und für einen hohen Klirrfaktor sorgt.

Aber, seid getrost, in der Pause gibt es ja Nachschub! Teilweise wird sogar Essbares angeboten, was deren Dauer locker auf eine halbe Stunde ausdehnt (und auch die Nebeneinnahmen des Hausmeisters garantiert). Sollte sich zum Ende des ersten Teils so etwas wie Stimmung aufgebaut haben, darf man diese nach der langen Unterbrechung künstlerseits erst wieder von vorn aufbauen. Ich finde daher: Ein Programm von 90 Minuten sollte allen Beteiligten ohne bleibende Schäden am Stück zumutbar sein – und für eine Zeitüberschreitung muss es wahrlich gute Gründe geben. Der beste: Man hat einfach so viel grandioses Material. Was daher bei den Wiener Philharmonikern gut gehen kann, sollte man beim Musikkorps Bisping an der Knatter" tunlichst vermeiden!

Der große Kurt Tucholsky hat ja längst die Richtung vorgegeben:
„Wat jestrichen is, kann nich durchfalln.“

Daher ist es völlig daneben, die Darbietung durch Mittelprächtiges bis Unnötiges aufzublähen, um die wenigen „Kracher“ in meinen Lieblings-Abschnitt zu verschieben: die Zugabe.

Die hat sich ja längst zu einem eigenen, dritten Programmteil entwickelt. Unter drei Zugaben macht es heute keine Dorfkapelle – auch wenn die eigentlich kaum einer möchte. Meist erkennt man das schon daran, dass die Musiker noch während des Schlussapplauses die Noten für die nächste Nummer auflegen. Und die Zuschauer wissen natürlich ebenso, was von ihnen erwartet wird, und klatschen sich brav und rhythmisch in die unvermeidliche Verlängerung.

Was eigentlich für die (seltenen) Fälle reserviert war, wo das Publikum von einer Darbietung so berauscht war, dass es die Künstler noch nicht gehen lassen wollte, ist immer mehr zu einem dämlichen Ritual verkommen.

Damit findet eine Art gegenseitige Affirmation von Bedeutung statt: Das Publikum macht sich vor, großer Kunst ausgesetzt gewesen zu sein – und die Mitwirkenden bestätigen sich in ihrer Wichtigkeit, weil mehrere Zugaben verlangt wurden. Ich wünsche mir in diesen Situationen einmal den Zwischenruf: „Nee, lasst mal…“

Der große Altmeister der Zauberkunst, Punx, hat zu einem seiner besten Kunststücke, dem „Märchen von den vier Wünschen“, geschrieben, es sei ein „Schlusstrick“: „Danach geht nichts mehr.“

Soll heißen: Ich muss mir doch als Künstler selber überlegen, mit welchem Schlusseindruck ich mein Publikum entlassen möchte: Doch bestimmt nicht mit dem, bereits übersättigten Zuhörern noch ein Stück ums andere reinzudrücken! Und ich habe es schon erlebt, dass zwischen dritter und vierter Zugabe dann noch Webseiten, Konzerttermine und CDs angepriesen wurden. Da fehlen echt nur noch die handgemachten Wurzelbürsten sowie das Patent-Fleckenwasser… Dult statt Kult!

Von meinen Zauberauftritten weiß ich: Für die Dauer einer Schulstunde reicht die Konzentration so gut wie immer – und „abendfüllend“ ist man, so es gewünscht wird, nach 90 Minuten durchaus. Zugaben liefere ich nie – auch wenn sie verlangt werden sollten. Um dies zu verhindern, kündige ich inzwischen mein letztes Kunststück als „Zugabe“ an.

Und das schönste Kompliment, dass ich als Künstler bekommen kann, ist doch: „Das hätte ruhig länger dauern dürfen.“

Überlassen wir daher den Satz „Derfs a bissel mehr sein?“ wieder den Metzgerei-Fachverkäuferinnen, welchen das geforderte Pfund Hackfleisch mit 580 Gramm etwas üppig geraten ist. Da sage ich gerne ja, zumal es länger dauern würde, die Portion bis zum Wunschgewicht auseinander zu polken.

So bin ich auch dort wieder früher aus dem Laden heraus…

P.S. Und was ich noch sagen wollte – nein, lieber keine Zugabe!

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