Sonntag, 14. April 2019

Der magische Moment


Diese Frage beschäftigt mich, seit ich zaubernd und moderierend vor Publikum auftrete: Es gibt ein paar Sekunden, die darüber entscheiden, wie die Zuschauer deine Darbietung einschätzen – ob sie dich mögen werden, eher reserviert die Show verfolgen oder gar nach Gründen suchen, warum sie dich ablehnen. Das alles entscheidet sich in wenigen Augenblicken!

Es passiert meist schon beim Intro, in der ersten Minute, so wie beim legendären Auftritt von Paul Potts in der Casting-Show „Britain’s got Talent“ aus dem Jahr 2007. Hier liegt der magische Moment ziemlich genau bei 1:11. Was erschwerend hinzukommt: Vorher hat der Gute optisch schon fast alles versaubeutelt: schiefe Zähne, schlecht sitzender Anzug, linkische Bewegungen. Die Meute ist bereits in „Feixbereitschaft“. Doch dann – nach den einleitenden, ruhig getragenen Grundtönen haut er den strahlenden Melodie-Beginn der Puccini-Arie mit einer derartigen Verve heraus, dass die Welt zuerst stillsteht und sich dann um 180 Grad dreht: A star is born…



Wenn ich auf meine eigenen Auftritte zurückblicke, kommt mir dabei stets der Gedanke: Was, wenn exakt in diesem Augenblick vor dem Sänger eine Kellnerin mit vollem Tablett vorbeigelaufen wäre? Oder ein depperter Veranstalter zu Beginn eine kalorienarme, längere Ansprache gehalten hätte?

Nun gibt es sicher etliche Gründe, mich nicht mit Paul Potts zu vergleichen. Dennoch: Was bei solchen Gelegenheiten mein Umfeld schon getan hat, um mir das Intro zu ruinieren, ist ein weites Feld: Da schafften es dann „Tontechniker“, die Begleitmusik nach 15 Sekunden abstürzen zu lassen oder versehentlich auf „Radio“ zu drücken, um die neuesten Verkehrsmeldungen von „Bayern 5“ einzublenden, ein zu spät kommender Gast warf mir fast den Zaubertisch plus den darauf stehenden Requisiten um, jemand riss im falschen Moment den Stecker aus der Dose – oder der Gastgeber unterbrach mich nochmal, weil er etwas „Wichtiges“ anzusagen vergessen habe…

Ich gestehe, in solchen Augenblicken dem Kriminalisten Josef Wilfling recht zu geben, wenn er meint: „Jeder kann zum Mörder werden.“

Doch meist bahnt sich Ruinöses bereits länger vorher an: Da hilft es nichts, mit dem Organisator vorher die Räumlichkeiten zu besichtigen und genau abzusprechen, wo man parken oder sein Material vorbereiten kann, wo genau man beim Auftritt steht, wieviel Platz man dort hat, wo man die Tonanlage anschließen oder größere Requisiten aufbauen kann. Nein: „Ach ja, mein Auto wollte ich noch wegfahren“ oder „Richtig, da werde ich jetzt gleich den Wirt fragen“ sind Sätze, die einen dann erwarten und die Botschaft vermitteln: Es ist längst zu spät. Nun hat der Gastronom schon sein Büffet dort aufgebaut, wo man eigentlich zaubern wollte, der Vorbereitungsraum ist anderweitig belegt, und das Kraftfahrzeug parkt die Assistentin dann halt 500 Meter weiter weg. Bewegung ist ja gesund…

Den wenigsten Veranstaltern ist klar, dass sie damit auf die Chance, eine wirkliche Spitzenleistung zu erhalten, von vornherein verzichten. Was der Künstler anschließend mit hängender Zunge, genervt und mit der Faust in der Tasche abliefert, ist eher mit dem Begriff „trotzdem“ zu umschreiben.

Selbst wenn man den Organisatoren wegen des etwas komplizierten Ablaufs ihres Events vorher eine schriftliche Zeitplanung zusendet, kann man fest davon ausgehen, dieselben Fragen, welche dort bereits beantwortet sind, jeweils fünf Minuten vorher nochmal mündlich gestellt zu bekommen. Warum denn auch lesen? Der Magier oder Moderator ist ja persönlich anwesend und freut sich sicherlich, in der Hektik der Performance alles erneut zu erklären. Bindend ist dies allerdings nicht: Im entscheidenden Moment stellt der dann staunend fest, dass man vor der Zaubervorstellung doch noch schnell die Geburtstagstorte anschneiden und „Happy Birthday“ singen wollte…

Aber auch viele Künstler – und zwar nicht nur im Amateurbereich – konzentrieren sich fast ausschließlich darauf, was sie darzubieten beabsichtigen, und ignorieren fast völlig die Rahmenbedingungen. Ein besonders markantes Beispiel ist für mich der Einsatz von Mikrofonen. Diese Geräte haben fast alle eines gemeinsam: Sie funktionieren im entscheidenden Moment nicht – für mich die einfachste Methode, ein Intro zu versemmeln, indem man minutenlang mit den Tücken der Verstärkung kämpft, welche die mühsam gepflegte Stimme oder den holden Geigenklang in Comic-Gequäkse verzerren oder halt gar nicht erst umsetzen. Seit vielen Jahren nehmen wir daher unsere eigene Tonanlage mit und verlassen uns nicht auf den technischen Trash, den man üblicherweise vor Ort gestellt bekommt.

Und, liebe Musiker, ihr mögt wunderbar spielen oder singen können, aber glaubt mir bitte: Reden könnt ihr meist nicht! Und selbst wenn: Es lenkt euch von der anderen Arbeit ab. Daher meine herzliche Bitte, falls ihr den Zuhörern mehr als ein Programmheft bieten wollt: Engagiert einen guten Moderator anstatt zu vermuten, es werde euch zu den einzelnen Stücken schon spontan ein Ankündigungstext einfallen. Seid versichert: Genauso klingt es dann auch! Ein versierter Ansager hingegen legt euch das Publikum schon ab der ersten Minute zu Füßen und rollt für euch einen roten Teppich aus – seine Gage lohnt sich.

Erst neulich erlebte ich es, dass ein Pianist meinte, ein wirklich sehr schönes Konzert moderieren zu sollen. An einen „Soundcheck“ hatte man dabei aber wohl nicht gedacht, so dass ich wegen seiner leisen Stimme (zusätzlich mit einem auswärtigen Akzent) nur die Hälfte verstand. Und dann machte er die Pausenansage zu früh, und man musste die bereits hinausströmenden Gäste wieder zurück in den Saal scheuchen, weil man sage und schreibe drei Stücke vergessen hatte. In solchen Fällen gewinnt der Begriff „Fremdschämen“ für mich eine konkrete Bedeutung.

Da ich öfters Musikveranstaltungen moderieren darf, weiß ich: Solche Events benötigen eine Regie, die sich um das Drumherum kümmert, welches die Musiker chronisch unterschätzen: Wie ist das mit dem Licht? Wo platziert man die Notenständer und anderes Material? Wer kommt von welcher Seite und warum? Passt die Programmfolge oder ist sie (meist) zu lang?

Für ein 100 Minuten-Programm sitze ich normalerweise einige Tage am Schreibtisch und weiß daher: Was „leicht“ wirken soll, benötigt eine Menge höchst nüchterner, akribischer und todernster Arbeit.

Man sehe sich einmal Fernsehshows wie „Let’s dance“ an! Man kann die Machart der Darbietung mit ihrer Wortlastigkeit, dem hysterischen Getue und Gekreische, den künstlich arrangierten Emotionen mögen oder hassen – nur: Schon einmal überlegt, wieviel Arbeit in den je einminütigen Tanzdarbietungen steckt – nicht nur Training und Choreografie, sondern in Punkto Maske, Kostüm, Bühnenbild, Beleuchtung, Spezialeffekte und Musik? Wie froh wäre ich, einen eigenen Auftritt einmal derartig unterstützt zu bekommen!

Daher, liebe Veranstalter, auch wenn ihr nur die Geburtstagsfeier für den Opa plant oder ein kleines Konzert in der Volkshochschule: Die engagierten Künstler könnten so viel erreichen, wenn euch klar wäre, wie wichtig die professionelle, genaueste Planung einer Performance ist. Mit „das werden wir dann schon sehen“ erreicht ihr genau diesen Eindruck beim Publikum: eben ein schlecht vorbereiteter, dilettantisch hingewurstelter Murks. Das Gegenteil von „gut“ ist bekanntlich „gut gemeint“

Daher fragt im Vorfeld den Protagonisten gerne Löcher in den Bauch – wenn diese ihre Kunst ernst nehmen, werden sie sich gerne damit beschäftigen und euch ein exaktes Konzept liefern. Falls nicht, habt ihr euch für die Falschen entschieden.

Und wenn dann der Moment gekommen ist:
Lasst die Künstler machen und haltet die Klappe!

P.S. Zwei ähnliche Artikel habe ich – natürlich völlig folgenlos – bereits veröffentlicht:
https://diemagiedesgr.blogspot.com/2015/07/was-brauchen-sie-jetzt-alles.html

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