Samstag, 26. Dezember 2020

Punx und Marvelli

 

Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als ich den Zauberkünstler Marvelli zum ersten Mal erlebte.

Die Magie hat in meinem Leben stets eine Rolle gespielt, seit mir mit 13 Jahren ein Freund seinen Zauberkasten schenkte. Auftritte vor der Familie und später in kirchlichen Jugendgruppen und im Zivildienst folgten. 1975 entdeckte ich in einer Buchhandlung ein Werk von Jochen Zmeck, das mir neue Impulse gab. Anfang der 1980er-Jahre kamen Effekte von Zauberhändlern dazu, es entstanden schon etwas größere Programme vor Freunden und Bekannten. 

Woran ich in dieser Zeit noch überhaupt nicht dachte: Die Rolle, welche ich als Magier spielen wollte. Fast ausschließlich war ich absorbiert von den Tricks und deren Technik, dem Ablauf einer Routine. Die Texte entstanden so nebenbei durch die Vorführung. Durchkommen war alles. 

Das änderte sich plötzlich, als ich vor fast 40 Jahren – eigentlich eher zufällig – die Show von Marvelli in München besuchte. Das Theaterzelt an der Leopoldstraße verließ ich ganz anders, als ich es betreten hatte. Ich hatte einen elegant gekleideten und geschliffen plaudernden Gentleman der alten Schule erlebt, dessen Textlinie mich atemlos machte: Wortspiele, Kabarett, Satire, Ironie, Poesie und umwerfender Charme – das alles so selbstverständlich, so fein ineinander verwoben, dass ich mich ohne die magischen Effekte  fast ebenso gut unterhalten hätte. Aber die setzten dem Ganzen natürlich die Krone auf, obwohl es vor allem bekannte Klassiker wie Ringspiel und Kubusspiel waren. Und vor allem: Sie visualisierten in perfektem Timing stets das gesprochene Wort!

Als ich die Vorstellung mit stecknadelkopfgroßen Pupillen verließ, wusste ich: Diese Art der Zauberei basierte nicht auf dem „Trick“ und seiner Technik, Fingerfertigkeit oder ausgeklügelten Apparaten, sondern präsentierte die Magie als Kunstform. Nicht das Was, sondern das Wie erzeugte die zauberhafte Wirkung! 

An diesem Abend wusste ich, in welchem Stil ich selber zaubern wollte. Insbesondere Marvellis Schlussnummer („Zwei Bogen Papier…“) ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Mit bescheidenen Mitteln bastelte ich mir meine Version zurecht, die ich inzwischen an die 60 Mal vorgeführt habe, aber nur für ein ausgesuchtes Publikum – dieser Effekt ist etwas für Feinschmecker. In meinem Zauberbuch habe ich ihn beschrieben (Seite 269-277). 

Von Zauberkollegen bekam ich ob meines Vorhabens heftigen Gegenwind: Einen anderen Zauberer kopieren – das gehe ja gar nicht! Ich solle mir gefälligst etwas Eigenes ausdenken. Diese Vorhaltung stürzte mich damals in eine schwere Krise. Glücklicherweise gab ich dann doch meinem Bauchgefühl nach und orientierte mich an meinem Vorbild Marvelli. Inzwischen weiß ich: Seit Jahrtausenden hat sich die Zauberkunst weiterentwickelt, indem Dinge übernommen wurden – und dabei natürlich auch verändert. Ein eigener Stil entwickelt sich eh, wenn man sich ernsthaft genug mit seiner Präsentation auseinandersetzt, vor allem auch die Reaktionen des Publikums beobachtet. 

Dass es eine Linie der geistvoll-poetischen Salonmagie gibt, die sich von Künstlern wie Johann Hofzinser (1806-1875) bis zu Marvelli (1932-2008) zieht, erfuhr ich später stückweise. In der deutschen Zauberszene gab es davon nicht allzu viel.

Wer war dieser Marvelli? Geboren in Rendsburg als Olof Becher zauberte der gelernte Goldschmied zunächst unter dem Künstlernamen „Rico“, bis er die Bekanntschaft eines weiteren Großen der poetischen Zauberkunst machte: Fredo Marvelli alias Friedrich Jäckel  (1903-1971). Ohne große Requisiten, nur mit der Kraft seines Wortes und der Geschicklichkeit der Hände füllte der große Konzertsäle. In einem Programmheft schreibt er 1948: „Ich sehe in der Magie die Vollendung geistig-künstlerischen Schaffens und nicht nur eine höhere Stufe artistischer Geschicklichkeit.“

1952 entdeckte der Künstler das verschlafene Dorf Benidorm an der Costa Blanca und löste einen riesigen Bau- und Immobilienboom aus. Er ließ sich dort nieder und gab die Zauberei auf. Seinen magischen Nachlass verkaufte er 1955 an Olof Becher, der sich fortan „Marvelli jr.“ nennen durfte (später auch schlicht „Marvelli“).

Den gelernten Werbefachmann Punx alias Ludwig Hanemann (1907-1996) habe ich leider nie persönlich erlebt. Aufmerksam wurde ich auf ihn durch die Fernsehsendung „Punx – Interpret des Phantastischen“ und sein Buch „Setzt euch zu meinen Füßen“. Ein Künstler, der in seinen mental gefärbten Programmen vielleicht noch mehr die Reduktion auf das Intellektuelle betrieb.

Sein „Märchen von den vier Wünschen“ habe ich inzwischen über 350 Mal vorgeführt, meist gegen Ende des Programms. Es garantierte mir stets eine zauberhafte Abschluss-Stimmung. Ebenfalls sehr stolz bin ich, sein Kunststück „Herz aus Glas“ in einer wunderschönen Ausführung zu besitzen, die Eckhart Böttcher einmal anbot. Auch diesen Effekt habe ich zirka 40 Mal – vor ausgewähltem Publikum – gezeigt.

Marvelli war der letzte deutsche Zauberkünstler, der es Ende der 1970er-Jahre mit drei Shows ins Hauptabendprogramm der ARD schaffte. Eigentlich waren sieben Sendungen vorgesehen, was jedoch an einem Zerwürfnis des Künstlers mit den Fernsehredakteuren scheiterte. Klar, dieser Magier war keine einfache Persönlichkeit – und seine Vorstellungen von niveauvoller Unterhaltung dürften stark von denen des Fernsehens abgewichen sein.

Am Schluss der Show sagt Marvelli: „Ich hoffe, ich habe nicht allen gefallen – dafür den anderen umso mehr.“ Könnte von mir stammen...

Nach meiner Erinnerung habe ich nicht alle drei Folgen erlebt und bin daher sehr glücklich, dass sie neuerdings auf YouTube in voller Länge zu sehen sind. Die zweite Sendung enthält für mich eine Sternstunde der Magie: In der Szene einer magischen Bibliothek (ab 15:30) zeigt Punx sein „Herz aus Glas“ – und anschließend Marvelli die „Zwei Bogen Papier“.

https://www.youtube.com/watch?v=n1eidDhA6vI

Um Einwänden zuvorzukommen: Klar, man sieht der Machart an, dass die Sendung gut 40 Jahre alt ist. Was die beiden jedoch zur „Magie als Kunst“ sagen, „welche den Verstand stillstehen lässt, aber die Herzen bewegt“, müssten viele Zauberfunktionäre zur Strafe hundert Mal abschreiben – so aktuell ist es!  Aber ich fürchte, sie würden es auch dann nicht verstehen. Marvelli war im „Magischen Zirkel“ eher verrufen. Nun gut, Sätze wie „Die machen Zauberkunststückchen, ich Zauberkunst“ dürften die Freundschaft nicht gefestigt haben, sind aber ziemlich wahr.

Das breite Publikum wird halt angezogen von Sensationsdarstellungen im Stil von Copperfield, Siegfried und Roy oder neuerdings den „Ehrlich Brothers“. Sicherlich locken die beiden neuen Shooting Stars junge Zuschauer an, was ja erfreulich ist. Persönlich halte ich ihre Shows nicht lange durch – zu viel Getöse und Gekreische, Lichtgewitter und Musikgeschmetter. Je größer und bunter die Kiste, desto bedeutender die Zauberei. Poesie? Höchstens am Rande.

Mein Vater war durchaus stolz darauf, einen zaubernden Sohn zu haben. Daher erinnere mich schmunzelnd an eine Bemerkung von ihm, als wir einmal die Vorstellung des holländischen Magiers Hans Klok besuchten. Zwischen seinen Großillusionen gab es kleinere Szenen mit Effekten, die mein Papa teilweise auch vom Sohnemann kannte. Worauf er meinte: „Dass der sich auch in diese Niederungen begibt…“

Sicherlich ist es spektakulärer, die Freiheitsstatue verschwinden zu lassen statt zwei Stück Seidenpapier zu verbrennen und dann zu restaurieren. Ist es auch magischer? Ich bezweifle das. 

In seinem Buch „Setzt euch zu meinen Füßen“ beschreibt Punx eine Szene aus seiner Kriegsgefangenschaft in Wales: Der Förster, für den er als Dolmetscher arbeitete, meinte einmal, in dieser einsamen Gegend sei nie etwas los – kein Theater, Kino oder Zirkus. Der deutsche POW (Prisoner of War) mache doch so hübsche Zauberkunststücke. Ob er nicht einmal für die Kinder der Forstarbeiter auftreten wolle?

Nach Feierabend holte der Förster die Kinder herein. Obwohl die Angst der Kleinen vor dem „German Soldier“ anfangs groß war, gelang es Punx, sie zu begeistern – spätestens, als er blanke Schillingstücke aus ihren Nasen herzauberte. 

Danach hielt der Förster eine kleine Ansprache: 

„Ich wollte Ihnen danken, denn das ist mein Junge, der Roland da drüben, dem Sie eine solche Freude gemacht haben. – Sieh an, Rolly, das ist nun ein Deutscher, von denen in den Zeitungen so viel Böses steht. Habe ich dir nicht immer gesagt, dass alle Menschen gleich sind, ob Engländer, Deutsche oder Chinesen? Dieser Deutsche, der euch jetzt eine Stunde lang Freude gemacht hat – auch er hat Kinder zu Hause, die auf ihn warten, und eine Frau. Und sie haben alle Heimweh. Es muss Frieden werden und bald, damit alle diese Menschen nach Hause kommen.“

Punx hat einmal geschrieben, welch noble Kunst die Zauberei sei, wenn sie in die richtigen Hände gelegt werde.

Recht hat er.

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