Dienstag, 14. April 2020

Der Zuschauer als Helfer


Bei manchen Zaubervorstellungen möchte ich nach fünf Minuten schon wieder gehen. Grund: Der Kollege tut nicht, was laut Programm versprochen ist: zaubern. Stattdessen holt er sofort ein bis zwei Personen aus dem Publikum auf die Bühne und beginnt mit diesen einen ellenlangen Dialog.

Ich habe Auftritte erlebt, bei denen zu Beginn schon zwei Stühle auf der Bühne standen und der einleitende Satz des Magiers lautete: „Jetzt brauche ich erstmal zwei Helfer.“ Nein, braucht er nicht!

Das geht manchmal so weit, dass der Vorführende von vornherein geradezu damit droht, irgendeine arme Seele gleich auf die Bühne zu zerren – Prinzip Schadenfreude: Jeder ist dann froh, wenn es ihn nicht trifft. Oder, auch bei Kabarettisten sehr beliebt: Ein Gast aus der ersten Reihe wird nach seinem Vornamen gefragt und dann das ganze Programm über mit dämlichen Sprüchen belegt.

Solche Faxen sind der Grund, wieso ich mich bei solchen Events stets in eine der hinteren Reihen begebe. Ich möchte mich nämlich für den Preis einer Eintrittskarte unterhalten und nicht befürchten müssen, zum Opfer diverser, meist weder neuer noch geglückter Scherze zu werden. Mit entspanntem Genuss einer Vorführung hat das für mich nichts zu tun!   

Klar, das Ganze läuft unter der heute sehr populären Flagge der „Publikumsbeteiligung“. Wie ich schon dargelegt habe, gibt es hierfür jedoch auch andere Möglichkeiten. Und warum eigentlich bitten Schauspieler relativ selten einen Laien auf die Bühne, um die eigene Rolle zu ergänzen – oder Pfarrer einen Gläubigen zum Altar, auf dass er bei irgendeinem Ritus mithelfe? Oder welcher Orchesterleiter lässt einen Hörer mal ein wenig mitdirigieren?

Ich möchte diese Option aber nicht völlig verdammen. Sicherlich kann so eine Einbeziehung Vorteile haben:

Die „Testperson“ beteiligt sich stellvertretend für das restliche Publikum hautnah am Geschehen, ist sozusagen ein Garant dafür, dass alles „seine Ordnung hat“, und wirkt durch die Nähe vielleicht sogar noch mehr verblüfft. Ihr Erstaunen wird von den anderen Zusehern „gespiegelt“.

Mit dieser Strategie kauft man sich jedoch auch erhebliche Probleme ein:

Eventuell möchte ein angesprochener Besucher gar nicht mitmachen, was zu einem Bruch im Rhythmus der Darbietung durch irgendwelches Gezerre und möglicherweise zum Ausweichen auf andere Kandidaten führt. (Übrigens „spiegelt“ das Auditorium dieses Verhaltensmuster ebenfalls – nach der ersten Verweigerung wird es Ihnen nicht leicht fallen, jemand anderen zu finden, der kooperiert!) Wenn Sie somit einen mehr oder weniger „Unwilligen“ auf der Bühne haben, kann der Ihnen mit einer „Defensivstrategie“ erhebliche Probleme bereiten!

Zudem gilt in einer solchen Situation „Murphys Gesetz“ umfassend: Alles, was schiefgehen kann, wird schiefgehen und die Routine in die Länge ziehen – verlassen Sie sich darauf! Im anderen Extrem können Sie nämlich an einen Assistenten geraten, welcher begeistert zu Ihnen nach vorne eilt, da er sich endlich einmal wichtigmachen und Ihnen die Show durch „kreative Einfälle“ stehlen möchte. Aber auch eine „normale“ Person, die ja meist nicht gewohnt ist, sich vor anderen zu produzieren, bringen Sie in eine heftige Stress-Situation. Richten Sie sich darauf ein, dass sie alles (Un)mögliche falsch machen könnte!

Schon aus den Gründen greife ich in einem Dreiviertelstunden-Programm höchstens bei zwei Nummern zu dieser Variante – und wenn mir die Gäste irgendwie seltsam erscheinen, lasse ich es ganz.

Kein Wunder, dass in der Literatur öfters Tricks und Gags beschrieben werden, um Zuschauer überhaupt zum „Mitmachen“ zu bewegen, sie also mit irgendwelchen Finten nach vorne zu bringen. Mich hat dies immer erstaunt, denn ich habe es bei den eigenen Auftritten kaum einmal erlebt, dass ein Kandidat sich verweigerte.
Mein Tipp: Man muss einen geeigneten Helfer finden – und dieser kooperiert optimal, wenn er zum Vorführenden Vertrauen hat!

Suchen Sie nach einer Person, die sich weder in den Vordergrund drängt (z.B. durch „originelle“ Zwischenrufe) noch mit stoischer Miene in der letzten Reihe sitzt – lieber eine, die lächelt, wenn Sie es tun, und besorgt blickt, falls Sie (hoffentlich nur scheinbar) in Schwierigkeiten sind. Ein sicheres Zeichen ist ebenfalls, wenn dieser Mensch Ihrem Blickkontakt nicht ausweicht!

Auf der anderen Seite muss Ihr Publikum zur Einschätzung kommen, dass Sie halbwegs „seriös“ sind, einen Mitwirkenden also nicht mit allzu üblen Gags und Zudringlichkeiten traktieren werden. Deshalb zaubere ich zu Beginn lieber erst mal selber, bis „man sich etwas besser kennt“, und gehe erst dann zu einem Duo-Akt über.

Ich bevorzuge es eher, Zuschauer kurz einzubeziehen, indem sie mir beispielsweise eine Zahl zurufen oder ein Requisit kurz halten sollen. Damit dokumentiere ich unausgesprochen, dass an dem entsprechenden Gegenstand nichts präpariert sein kann.

Behalten Sie Zuschauer, denen Sie irgendwelche Utensilien überreicht haben, aber stets im Auge! Gerade bei Kindern beginnt gerne ein Gezerre, das den Requisiten nicht guttut! Auch kann es leicht geschehen, dass die Leute ein solches Teil an andere weitergeben oder gar verschwinden lassen, gerne garniert mit der hämischen Bemerkung, sie hätten jetzt „auch mal gezaubert“. Meist wird Ihnen der Gegenstand im Anschluss an Ihren Auftritt mit den Worten zurückerstattet: „Ich wollte nur mal sehen, wie Sie darauf reagieren.“

Den Machtkampf mit solchen „Amateurpsychologen“ können Sie niemals gewinnen, da die restlichen Zuschauer diese Intervention eher als originell und spannend betrachten werden. Besser, Sie passen auf bzw. haben für derartige Fälle ein „Out“ (also eine Notlösung) parat, mit der Sie die Routine halbwegs überzeugend zu Ende bringen können und dabei umso mehr Respekt beim Publikum einheimsen! Schlimmstenfalls gehen Sie kommentarlos zur nächsten Nummer über (hoffentlich eine ohne Gästebeteiligung) – dann hat nämlich diese Person dem Rest „den Spaß verdorben“!

Als männlicher Zauberer werden Sie besonders leicht das Opfer von „Rivalenkämpfen“, wenn Sie sich Helfer des gleichen Geschlechts wählen. Wenn Ihr Effekt bombensicher funktioniert und die Dramaturgie es erfordert, können Sie dieses Ringen sicherlich einmal bewusst inszenieren – im Normalfall rate ich Ihnen jedoch, sich weibliche Kandidaten auszusuchen. Frauen sind viel mehr darauf „programmiert“, „alles richtig“ zu machen, während es Männer gerne besser, größer und anders mögen. Auf der Sollseite kaufen Sie sich möglicherweise Unsicherheit und Nervosität ein, aber das ist besser als das Ausarten der Nummer zu einem Balztanz zweier Gockel, bei dem der magische Effekt in den Hintergrund rückt.

Ich habe es schon angesprochen, aber man kann es gar nicht oft genug sagen: Behandeln Sie Ihre „Assistenten“ freundlich und respektvoll! Gerade die Kombination Helfer (schüchterne, aber schöne Frau) / Magier (meist weniger schön, dafür höchst selbstsicher) verleitet etliche Kollegen dazu, nun wirklich kaum einen platten „Anmachspruch“ auszulassen („Unterschreiben Sie diese Karte und fügen Sie gleich Ihre Telefonnummer hinzu!“). Sicher kriegen Sie dafür den einen oder anderen Lacher. Wie die Zuschauer aber hinterher das Niveau Ihres Auftritts einschätzen, bleibt halt die Frage – eines dagegen ist sicher: Nach einer solchen „Behandlung“ werden Sie es schwerer haben, weitere Kandidaten zum Mitmachen zu animieren! Wie bereits erwähnt, nervt es mich als Betrachter gewaltig, wenn ich mich nicht entspannen kann, sondern einem ständigen „Mitwirkungszwang“ ausgesetzt bin.

Zwei Grundsätze sollten Sie beherzigen:

Ein mithelfender Zuschauer darf alles falsch machen.
Er muss mit dem Ende der Routine gut leben können.

Bedenken Sie, dass Ihr Helfer sich ja üblicherweise nicht danach gedrängt hat, sich den Blicken aller anderen auszusetzen – er tut Ihnen einen Gefallen, nicht umgekehrt! Er hat sich wohl vorher nicht mit Zauberkunst beschäftigt und ist daher völlig ungeübt im Hantieren mit Gerätschaften, welche Ihnen bestens vertraut sind. Damit er dennoch nicht allzu viel falsch macht, benötigt er von Ihnen klare Anweisungen, die Sie auch gestisch untermauern (z.B. eine gewisse Handhaltung), und er muss Zeit haben, diese zu verarbeiten.

Schaffen Sie eine lockere, entspannte Atmosphäre und wiederholen Sie Ihre Wünsche lieber einmal zu viel, dann wird die Nervosität Ihres Assistenten sich hoffentlich legen. Sollte ihm dennoch ein Patzer unterlaufen: Bleiben Sie freundlich und steuern Sie Ihr „Out“ an, welches Sie hoffentlich auch für diesem Fall parat haben!

Vermeiden Sie Abläufe, in denen der „unwissende“ Zuschauer als Kontrast zum „alles könnenden“ Künstler missbraucht wird. Es ist wahrlich nicht lustig, sich als Besucher einen unerwarteten Stress antun zu müssen und dann noch vor allen Leuten als „Depp“ dazustehen! Zumindest zum Schluss der Routine muss Ihr Assistent etwas Richtiges hinbekommen, im Idealfall selber „gezaubert“ haben und damit sogar Sie „verblüffen“! Vergessen Sie nicht, sich bei Ihrem Helfer zu bedanken und dafür zu sorgen, dass er sicher auf seinen Platz zurückkommt. (Beim plötzlichen Nachlassen der Anspannung treten öfters Orientierungsprobleme auf, und es wäre kein gutes Finale, wenn Ihr Gast deshalb von der Bühnentreppe fällt!) Auch eine kleine „Belohnung“ fürs Mitwirken kommt gut an!

Aktiver gestrickte Zuschauer können Ihnen Probleme bereiten, indem sie allzu kreativ mit Ihren Anweisungen umgehen, beispielsweise ein Kartenspiel nochmals mischen wollen, Requisiten im falschen Moment untersuchen usw. Bleiben Sie daher nahe genug am Assistenten, „schweben“ sozusagen mit den Händen über ihm, um im Fall des Falles sofort eingreifen zu können! Fesseln Sie ihn mit Ihrem Blick und ziehen Sie notfalls das Tempo an – er muss sich dann auf das Gewünschte konzentrieren und kann nebenbei keinen Unfug treiben. (Leider sieht man immer wieder, dass Helfer minutenlang unbeschäftigt herumstehen, weil sich der Vorführende gerade anderweitig betätigt. Dies ist nicht nur unhöflich, sondern vor allem ziemlich riskant!)

Der „Worst Case“ besteht sicherlich darin, dass ein solcher Zuschauer versucht, Ihnen die Inszenierung aus der Hand zu nehmen, indem er dumme Bemerkungen loslässt, Vorgaben verändert („Darf ich mir noch eine zweite Karte auswählen?“), Requisiten untersucht oder Ihnen gar in die Tasche greifen will. Solche Szenen werden Ihnen seltener begegnen, wenn Sie vorher schon bestimmt genug aufgetreten sind – und vor allem rechtzeitig „den Braten gerochen“ und einen solchen Gast nicht um Mitwirkung gebeten haben. Ganz ausschließen kann man derartige Probleme aber nicht. Im Fall des Falles können Sie natürlich versuchen, dem Helfer durch ironisch gefärbte Bemerkungen zu signalisieren, dass Sie nicht gewillt sind, ihm die Regie der weiteren Vorstellung zu überlassen. Auch ich habe schon auf Sprüche zurückgegriffen wie

·         „Wenn Sie etwas schneller machen, könnten wir in der Vorführung fortfahren.“
·         „Lassen Sie sich ruhig Zeit, wir müssen sowieso das Programm etwas strecken.“
·         „Wollten Sie gerade origineller sein als ich?“
·         „Möchten Sie meine Show sonst noch irgendwie ruinieren?“
·         „Meine Lieblingszuschauer sind die Erklärer, Grabscher und Testaufbaubestimmer.“
·         „Wissen Sie, was meinen Job so schwierig macht? Dass ich immer diese komischen Wünsche erfüllen soll.“
·         „So viel zu Ihren Ansprüchen…“
·         „Das war jetzt der falsche Text. In meinem Drehbuch steht: ‚Aber gerne, Herr Riedl’“.
·         „Natürlich kann ich nicht wirklich zaubern – aber bedenken Sie, was Sie in Ihrem Beruf alles machen, was Sie auch nicht können.“
·         „Das war das letzte Mal, dass du eine Freikarte bekommen hast, Vati.“
Fettdruck
Solche „Killer-Phrasen“ können helfen, besonders, falls man sie bereits als Vorwarnung und nicht erst einsetzt, wenn einem die Vorstellung schon entgleitet – und vor allem keinen scharfen Tonfall anschlägt. Dann wirken sie nämlich noch relativ witzig, haben jedoch trotzdem Signalcharakter. Möglicherweise führen sie aber zu einem Zerwürfnis mit dem Publikum. Keinesfalls dürfen Sie sich auf Debatten einlassen und solche Sprüche inflationieren. Haben Sie sich erst einmal die Mehrzahl der Zuschauer zum Feind gemacht, können Sie einpacken! Man braucht viel Erfahrung und Gespür, um in der Hektik zu beurteilen, ob eine solche „Anmache“ nützt oder es besser ist, darauf zu verzichten, Nummern mit Zuschauerbeteiligung zu streichen und zügig das Ende des Auftritts anzustreben.

Es kann in solchen Momenten alles passieren – auch positive Dinge, die man sich nie erträumt hätte. Man begegnet oft genug äußerst charmant oder witzig agierenden, kooperativen Menschen, bei denen es einem leidtut, die Nummer irgendwann beenden zu müssen. Und das Publikum erlebt Sie als einen Künstler, der mit spontanen und überraschenden Entwicklungen (hoffentlich) souverän umgeht. Ich habe in solchen Momenten viel über Bühnenpräsenz und Zuschauerkontakt gelernt.

Aber bitte: Nutzen Sie solche Mitwirkungen sparsam und gut platziert – auch nach dem Ende der Corona-Kontaktbeschränkungen!

Dazu noch ein Beispiel von einem meiner Lieblings-Kollegen, Martin von Barabü. Bewundernswert, wie zurückhaltend, gezielt und charmant er seinen kleinen Assistenten einsetzt:


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